Geschichten aus Guatemala by Eduardo Halfon

Geschichten aus Guatemala by Eduardo Halfon

Autor:Eduardo Halfon
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Guatemala, Lateinamerika, Guatemala-Stadt
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2022-01-15T00:00:00+00:00


Staatsbürgerschaft

Denise Phé-Funchal

Volljährig zu werden, ist für jeden ein wichtiges Ereignis. Es ist der Moment, in dem man zu einem richtigen Bürger wird, ab dem man mitmachen kann und zur Zukunft des Landes gehört. In fünf Tagen werde ich dieses verantwortungsvolle Alter erreichen und darf dasselbe haben wie meine Schwester, wie meine Eltern, worauf ich mich sehr freue. Ich werde durch die Straßen spazieren und stolz die Symbole der Bürgerschaft und der Gerechtigkeit tragen dürfen. Mama erzählt mir, dass es früher nicht so gewesen sei, es habe kein Frieden geherrscht, ab einem bestimmten Moment sei es riskant geworden, überhaupt auf die Straße zu gehen, in einen Bus zu steigen, den Park zu besuchen. Es sei unmöglich gewesen zu leben. Alles sei komplett von ihnen besetzt gewesen. Die Zeitungen, sagt Papa, hätten die Bilder der Gräueltaten gezeigt. Jeden Tag habe in ihnen eine Liste der Toten gestanden, der Vergewaltigungen, von Diebstählen und Überfällen, von Schießereien, zu denen es auf offener Straße gekommen sei. Die Atmosphäre sei unerträglich geworden, fügt Großvater an, das Land sei ein Chaos gewesen, sagt Großmutter. Alle hätten Angst gehabt. Und sie beschreiben mir, wie sie, bevor sie das Haus verließen, sich höheren Mächten anvertrauten. Die, die zu Hause blieben, beteten, damit ihren Liebsten nichts zustoße, und zündeten farbige Kerzen an, um alle Familienmitglieder zu beschützen. So zu leben, sei schier unmöglich gewesen, meint meine Tante. Am Tag nach meinem Geburtstag werden wir ins Rathaus gehen, um die Urkunden und Auszeichnungen entgegenzunehmen, durch die meine vollen Bürgerrechte beglaubigt werden.

Heute hat mir Mama den Katalog mitgebracht, damit ich mir das Modell der wichtigsten Auszeichnung aussuche, die ich von nun an mein ganzes Leben lang tragen werde und durch die alle wissen, dass ich zur Friedensbewegung gehöre. Ein paar von meinen Schulfreunden haben ihre schon; hinten in der Aula gibt es einen Platz, um sie abzulegen. Ich will so sein wie sie, die ihre Bürgerrechte in der Pause spazieren führen, die voller Stolz über den Frieden zu Mittag essen. Die Behörden rechnen damit, dass es in ein paar Jahren keine solche Auszeichnungen mehr geben wird. Im Katalog sehe ich alles Mögliche. Aber nicht genau das, was ich mir vorgestellt habe. Ich habe immer davon geträumt, eine solche Auszeichnung wie meine Schwester zu besitzen, aber die gibt es nicht mehr. Sie sind letztes Jahr ausgegangen. Die, die es noch gibt, sind nicht so süß wie die ihre und die ihrer Freunde. Wenn es überhaupt keine mehr davon gibt, können wir auch aufhören, unsere Masken zu tragen. Das wird wohl in ein paar Jahren der Fall sein, und wir werden uns endlich wieder in die Augen blicken können, und alle werden unser Lächeln sehen. Wir werden endlich eine Luft atmen, die nicht durch den Geruch der Nicht-Bürger verpestet ist. Papa hat mir versprochen, mich morgen auf den Schießstand mitzunehmen. Zu den vollen Bürgerrechten gehört auch eine Waffe, die wir einsetzen, um uns unsere Auszeichnung zu verdienen. Die Polizei stellt die Waffen bei jeder Verleihung der Bürgerrechte zur Verfügung. Wir benutzen sie einmal, nur



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